- Generalbass: Konzertierendes Prinzip und Akkordaufbau
- Generalbass: Konzertierendes Prinzip und AkkordaufbauDas vielleicht prägnanteste Merkmal der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts ist ihre akkordische Stützung durch einen Generalbass (Basso continuo). Wenngleich seine Einführung offenkundig in enger Beziehung zu der um 1600 aufgekommenen Monodie (Sprechgesang) steht, reichen seine Wurzeln bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts zurück. Denn letztlich gehörte auch in dieser Zeit schon die Improvisation über eine vorgegebene Melodie zum Rüstzeug eines Musikers, genauso wie die Einrichtung mehrstimmiger Werke für ein Akkordinstrument wie Laute, Cembalo oder Orgel. Allerdings pflegte man diese meist polyphonen Bearbeitungen nicht in Notenschrift, sondern in einer Art Griffschrift, der Tabulatur, zu notieren. Ebenso war es üblich, bei der Einrichtung mehrstimmiger Vokalwerke für die Orgel entweder die gesamten Vokalstimmen zu übertragen oder aber lediglich ein Gerüst, welches zumeist aus den jeweils tiefsten und höchsten Stimmen bestand. Es handelte sich also sozusagen um eine reduzierte Partitur. Der Organist, der in der Regel die Aufführung leitete, konnte sich so schnell ein Bild vom Werk machen. Die Notierung allein der jeweils tiefsten erklingenden Stimme in mehrstimmigen Werken, die im Grunde nur noch das harmonische Gerüst der Komposition erkennen lässt, wurde ebenfalls üblich. Diese Praxis nannte man »Basso seguente«, also: »dem Bass folgend«.Im Gegensatz dazu führten die ersten Monodisten in ihren rezitierenden Sologesängen die Bassstimme zwar selbstständig, nicht aber als vollwertige Melodiestimme. Der Bass wurde hier zum reinen Harmonieträger. Entsprechend konnte man darauf verzichten, die bei der Gesangsbegleitung mitzugreifenden Akkorde detailliert aufzuschreiben. Damit der Begleiter dennoch die zu der Gesangsstimme passenden Harmonien greifen konnte, schrieb man Partituren, in denen die einzelnen Stimmen übereinander angeordnet waren, und fügte der Bassstimme zusätzlich noch Ziffern hinzu, welche — ausgehend von der Bassnote — die einzelnen mitzuspielenden Intervalle benannten. Insofern handelt es sich bei der Generalbassstimme im Grunde genommen um eine verkürzte Partitur, die durchaus in der Tradition der Tabulaturschreibweisen steht. Als ideales Instrument für die Ausführung des Generalbasses sahen die frühen Monodisten die italienische Basslaute, den »Chitarrone«, an, dessen Saiten aufgrund der ungewöhnlich langen Mensur vollklingend waren. Die ersten Spielanweisungen zum Continuo finden sich in den berühmten »Concerti ecclesiastici« von Lodovico Viadana, die 1602 in Venedig veröffentlicht wurden.In einem kleinen, 1607 erschienenen Traktat mit dem Titel »Del sonare sopra'l Basso con tutti li stromenti e dell'uso loro nel Conserto« setzte sich auch Agostino Agazzari für die Praxis des Generalbassspiels ein und stellte die damit verbundenen Vorzüge dar. Wenige Jahre später übersetzte Michael Praetorius die Schrift Agazzaris ins Deutsche und integrierte sie mit wenigen Modifikationen in den dritten Band seines »Syntagma Musicum«. Für die Einführung des Generalbasses sprechen nach Agazzari drei Gründe: »1. Wegen der jetzigen gewohnheit und styli im singen, do man Componiret und singet, gleichsam, als wenn einer eine Oration daher recitirte. 2. Wegen der guten Bequemligkeit. 3. Wegen der grossen Menge, Varietet und Vielheit der operum und partium, so zur Music von nöthen seyn.« Mit seinem ersten Argument wendet sich Agazzari noch einmal gegen die ältere Musik, die seiner Meinung nach den Text verstümmle und nichts mit dem modernen »redenden Sologesang« zu tun habe. Die mit dem Generalbass verbundene »Bequemligkeit« war gegenüber der herkömmlichen Tabulaturschreibweise in der Tat beträchtlich. Der Organist konnte sich nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Hilfen wie Textmarken, Besetzungsangaben und Stimmenzuordnungen rasch ein Bild von dem Werk machen und sogar aus der Bassstimme das Werk aufführen. Möglicherweise war diese Arbeitserleichterung mit einer der Gründe, weswegen ab 1600 ungewöhnlich viele Werke geschaffen und aufgeführt wurden; zugleich dürfte sie direkt dazu geführt haben, dass die Stilentwicklung sehr viel rascher voranschritt als zuvor.Die rasche Akzeptanz des Generalbasses resultierte sicherlich aber auch daraus, dass man in ihm eine »natürliche« Ordnung verwirklicht sah, die mit der barocken Weltsicht übereinstimmte. Ausgehend davon, dass die Bassstimme das ideelle Fundament der über ihr zu errichtenden Dreiklänge darstellte, ließ sich mit der Dreieinigkeit Gottes schnell eine theologische Analogie herstellen. Die gesamte Musik nämlich konnte als eine Dreiklangsschichtung über dem Bass verstanden werden. Befand sich im Bass die unterste Note des Dreiklangs, so handelte es sich um die natürliche Harmonie, die auch mit dem mathematischen Fundament übereinstimmte: Die Töne des Dreiklangs (c-e-g) nämlich verhalten sich im Schwingungsverhältnis wie 4 zu 5 zu 6. Wenn nun die Terz des Akkordes im Bass erscheint, verschieben sich die Proportionen, denn e-g-c1 verhalten sich zueinander wie 5 zu 6 zu 8, die natürliche Reihe der Proportionen ist also unterbrochen. Der Dreiklang in der Normallage brauchte in der Generalbassstimme nicht eigens bezeichnet zu werden, da er als »Ordinar-Satz« ohnehin gegriffen wurde. Alle Abweichungen aber mussten durch Ziffern kenntlich gemacht werden, was jedoch in der Praxis häufig versäumt wurde. Es sind »Veränderungen der Ordinar-Griffe«. Je weiter man sich von diesen »Ordinar-Griffen« entfernt, desto weniger sind sie rational fassbar. Je reichhaltiger also eine Generalbassstimme beziffert ist, desto »sonderbarer« ist der harmonische Gesamtverlauf. Ihr stets gegenwärtiger Bezugspunkt jedoch ist und bleibt der Dreiklang, alle Ableitungen lassen sich letztlich wieder auf ihn zurückbeziehen. Dies wiederum ermöglichte harmonische Wagnisse, die vormals im System des Kontrapunkts undenkbar gewesen waren und die mitverantwortlich sind für die emotionalen Spannungen der Barockmusik. Der Generalbass erwies sich, egal ob er mit dem mathematischen Fundament übereinstimmte oder nicht, als geordnet. Er galt als das von Gott gegebene Fundament, welches den Gang der Harmonie bestimmte und repräsentierte und welches von Erasmus Kindermann sogar mit der himmlischen Musik gleichgesetzt wurde. So entstand im Verständnis der Zeit eine regulierte Musik, die in allen Punkten der göttlichen Ordnung und den Regeln der Natur folgte. Das akkordische Denken hatte das lineare Denken der Renaissance abgelöst. Eng damit verbunden war der allmähliche Übergang von den Kirchentonarten zur modernen Tonalität mit ihrem Dur- und Moll-Charakter.Nicht nur hinsichtlich Akkordik und Tonalität schuf die Barockzeit etwas Neues, auch der Takt, so wie wir ihn heute verstehen, entwickelte sich in dieser Zeit. Obgleich sie taktstrichähnliche Gliederungszeichen benutzten, schienen die Monodisten mit ihrer Forderung nach rhythmisch freiem Vortrag eines Textes dieser Entwicklung zunächst einmal entgegenzuwirken. Der Vortrag sollte ganz bewusst »ohne Schlag« dem Affekt der Textvorlage folgen, wobei zugunsten der Affektdarstellungen plakative Tempoverschiebungen und dynamische Kontraste möglich wurden. Zugleich aber bemühte man sich, die metrischen Schemata der Dichtung auch musikalisch darzustellen, wodurch eine Schwer-Leicht-Gruppierung häufig bereits vorgegeben wurde. Hinzu kam, dass manche Gattungen auch schon zuvor — analog zum Takt — durch stete Wiederholungen von rhythmischen Einheiten geprägt waren; hierzu gehören beispielsweise der Tanz oder einfache Liedbildungen. Die Trennung von volkstümlichen und höher stehenden, künstlichen Gattungen, auf die in der Renaissance Wert gelegt wurde, wird nun weitgehend aufgegeben. Bereits die ersten Opern enthalten neben den rezitativischen Teilen auch Tanzsätze. Die rhythmische Verfestigung in den übrigen Sätzen entwickelte sich erst allmählich. Grundlage hierfür war die Verwendung von bestimmten rhythmischen Motiven, die für einen einzelnen Satz prägend waren.Der typische »Barockklang« entsteht aber nicht allein aus den bisher erwähnten Neuerungen. Wichtig und klanglich direkt erfahrbar wird auch das konzertierende Prinzip, das sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts aus der venezianischen Mehrchörigkeit herausgebildet hatte und zunächst nur im Bereich der Vokalmusik neue Formen des konzertierenden Miteinanders entwickelte. Der sprachgeschichtlich nicht eindeutige Begriff »Concerto« (einerseits »Gegeneinander«, andererseits »Miteinander«) wurde im 17. und auch noch zum Teil im 18. Jahrhundert als Gegeneinander unterschiedlicher Klangkräfte verstanden. Verschiedene Klanggruppen, die sich nach Stimmlage (hoch, mittel, tief) oder Besetzungsart (solistisch, chorisch; vokal, instrumental) unterschieden, wurden einander gegenübergestellt, um neue Kontrastwirkungen zu erzielen. Mehrchörige Werke ermöglichten nicht nur einen räumlichen Eindruck, sondern auch kontrastierende Klangfarben und größere Lautstärkenabstufungen, wenn man sie einmal chorisch, ein anderes Mal solistisch besetzte; das Laut und Leise entsprach den Begriffen »Tutti« und »Soli«, nicht nur in der Vokal-, sondern auch in der Instrumentalmusik. Das Aufeinanderfolgen ganz unterschiedlicher Satzblöcke nach einem eher architektonischen Prinzip bewirkte Kontraste, die für das ganze 17. Jahrhundert von grundlegender Bedeutung waren. Das konzertierende Prinzip hielt im Laufe des 17. Jahrhunderts Einzug in nahezu alle musikalischen Gattungen oder rief neue hervor, wie etwa das von Arcangelo Corelli in den frühen 1680er-Jahren zu einer ersten Blüte geführte Concerto grosso, das den Klangfarbenwechsel zwischen Tutti- (Concerto) und solistischen (Concertino) Abschnitten nutzt.Dr. Reinmar EmansDie Musik in Geschichte und Gegenwart, begründet von Friedrich Blume. Herausgegeben vonLudwig Finscher. Auf 21 Bände berechnet. Kassel u. a. 21994 ff.
Universal-Lexikon. 2012.